Neue Metastudie „Stadt und Land: gleichwertig, polarisiert, vielfältig“

Das Bucerius Lab der ZEIT-Stiftung hat im Rahmen seines Arbeitsschwerpunkts “Stadt.Land.Zukunft” eine Metastudie herausgegeben, die die Entwicklung von Städten und ländlichen Regionen in Deutschland analysiert: Welche Stadt-Land-Unterschiede bestehen? Wie können diese überwunden werden? Und welche Rolle kann die Digitalisierung dabei spielen? Die Metastudie „Stadt und Land: gleichwertig, polarisiert, vielfältig“ gibt einen Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs zu diesen Fragen.

Ein Teil der Studie bildet die Debatte über das politische Ziel der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen in allen Teilen Deutschlands ab. In der Wissenschaft wird darüber schon seit längerem durchaus kontrovers diskutiert. Außerdem werden Ansätze aufgezeigt, wie strukturelle Ungleichheiten in einzelnen Regionen ausgeglichen werden können, und Vergleiche zu anderen europäischen Ländern gezogen. Verfasst wurde die Metastudie von Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop und Peter Stroms vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) im Auftrag des Bucerius Labs der ZEIT-Stiftung. Hier finden Sie zusätzlich ein Interview mit Studienautor Stefan Siedentop.

Stefan Siedentop war außerdem in unserem Podcast „Urban Change“ zu Gast. Die vollständige Folge können Sie hier anhören.

Die vollständige Fassung der Studie stellen wir Ihnen hier kostenlos zur Verfügung.

Über die Autoren der Studie:

Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop

Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop

ist Wissenschaftlicher Direktor des ILS und Professor an der TU Dortmund, Fakultät Raumplanung, Fachgebiet Stadtentwicklung.

Peter Stroms

Peter Stroms

hat Humangeographie studiert (M. Sc.) und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ILS. Er promoviert an der TU Dortmund in den Fachgebieten Stadtentwicklung sowie Stadt- und Regionalplanung.

Kurzfassung der Metastudie: 

Im 20. Jahrhundert und den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts haben die Beziehungen zwischen ‚Stadt‘ und ‚Land‘ tiefgreifende Wandlungen erfahren – in morphologischer, funktionaler wie auch in diskursiver Hinsicht. Die räumlich ausgreifende Industrialisierung und Urbanisierung, die nicht nur die Umlandgebiete um die Großstädte erfasste, die Strukturumbrüche in der Landwirtschaft, der flächenhafte Ausbau moderner Infrastrukturen und die Diffusion ‚urbaner Lebensstile‘ haben zu einer Entgrenzung des Städtischen und einer zunehmenden Einebnung der Kulturdifferenz zwischen städtischen und ländlichen Lebensräumen geführt. Zwar leben ‚Stadt‘ und ‚Land‘ in imaginierten Eigenschaften im Bewusstsein der Menschen sowie in medialen Diskursen weiter; in der Realität einer ‚planetaren Urbanisierung‘ haben sich die StadtLand-Gegensätze aber immer weiter verringert.  

Die soziologische und kulturwissenschaftliche Diagnose der Auflösung der Stadt-Land-Differenz steht allerdings in gewissem Widerspruch zu aktuellen Debatten über ‚abgehängte‘ und ‚peripherisierte‘ ländliche Räume und die Polarisierung der raumstrukturellen Entwicklung zwischen wachstumsstarken Metropolen und Metropolregionen auf der einen Seite und ökonomisch zurückbleibenden ländlich-peripheren Räumen auf der anderen Seite. Insbesondere in den vergangenen Jahren hat eine Repolitisierung des Stadt-Land-Diskurses stattgefunden, die auch durch den Zulauf zu rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien – der in strukturschwächeren Regionen besonders stark ausfiel – angetrieben wurde. Die in Europa konstatierte ‚populistische Revolte‘ wird neben sozialer Ungleichheit explizit auch mit territorialer Ungleichheit erklärt.  

Vor diesem Hintergrund erleben die seit Jahrzehnten geführten Debatten um ‚gleichwertige Lebensverhältnisse‘ und ‚ausgleichsorientierte‘ Politikansätze der Raumordnung und Wirtschaftsförderung eine Renaissance. Wurde das Thema lange Zeit als exklusive Aufgabe staatlicher Raumordnungs- und Strukturpolitik angesehen, werden in der jüngeren Vergangenheit das Ineinandergreifen von staatlicher Rahmensetzung (in regulatorischer, planerischer und fiskalischer Hinsicht), leistungsstarker kommunaler Selbstverwaltung und zivilgesellschaftlicher Teilhabe betont. Nur in einem Ko-Design von Staat, Kommunen, Wirtschaft und Bürgerschaft lassen sich angemessene Lösungen für die Zukunftsherausforderungen finden.  

In der vorliegenden Studie wurde die umfangreiche Literatur zu den Stadt-Land-Beziehungen systematisch ausgewertet. Dabei wurden sowohl wissenschaftliche Quellen als auch politische Dokumente berücksichtigt. Insgesamt konnten mehr als 200 Quellen einbezogen werden. Die Leitfragestellungen sind:  

  • Welche Aussagen macht die Wissenschaft zu dem Ausmaß und den Ursachen raumstruktureller Disparitäten und ihren Veränderungen im Zeitverlauf?
  • Welche leitenden Ideen, Paradigmen und Konzepte der staatlichen Raumordnungs- und Strukturpolitik lassen sich unterscheiden und welche Wirksamkeit wird diesen für die Gewährleistung gleicher Lebensqualität und Teilhabechancen in allen Teilen des Landes zugeschrieben? 
  • In welchem Verhältnis stehen die staatlich-kommunalen Struktur- und Kohäsionspolitiken und lokale, zivilgesellschaftliche Initiativen zur ‚Revitalisierung‘ von Räumen mit zurückbleibenden Lebens- und Teilhabechancen zueinander?
  • Wie gehen andere Länder mit Fragen von raumstrukturellen Disparitäten und Stadt-Land-Gegensätzen um? 

Die Auswertung der Literatur verdeutlicht, dass die in der Politik verfolgten Konzepte zur Schaffung ‚gleichwertiger Lebensverhältnisse‘ und ‚territorialer Kohäsion‘ in starker Abhängigkeit von vorherrschenden Ideologien und dem Zeitgeist stehen. So wurden die neoliberal geprägten 1990er und 2000er Jahre, in denen wachstumspolitische Agenden die Raumordnungsund Strukturpolitik beherrschten, von einer Phase abgelöst, in der unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise nach 2008 ausgleichspolitische Ziele erneut an Boden gewinnen. Bis heute gibt es allerdings keinen Konsens, was unter ‚gleichwertigen Lebensverhältnissen‘ zu verstehen ist und wie ein geeigneter politischer Weg dahin aussehen kann. Stattdessen ist ein durchaus produktiver Ideenwettbewerb in Wissenschaft, Medien, Politik und Gesellschaft anzutreffen, in dem klassische Förderlogiken für ein Angleichen ‚strukturschwacher‘ Räume ‚nach oben‘ neben Vorstellungen vom Wert der ‚regionalen Vielfalt‘, der ‚Selbstverantwortung‘ und ‚Kooperation‘ stehen. Durch zahllose Modellvorhaben von Bund, Ländern und Stiftungen ist der ländliche Raum in Deutschland zu einem Experimentalraum geworden, in dem soziale Innovationen neue Wege für ein gutes Leben auch weit entfernt von den Großstädten aufzeigen.  

In neueren Beiträgen wird dabei auch die Digitalisierung als Treiber der regionalen Entwicklung verstanden. Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen neue Arbeitsformen, Mobilitätsdienstleistungen und Versorgungsangebote, die nicht selten in die Lücke wegbrechender staatlich-kommunaler Leistungen stoßen. Schließlich wird in der jüngeren Literatur darauf hingewiesen, dass neben einer Orientierung an Verteilungs- und Chancengerechtigkeit auch die Verfahrensgerechtigkeit – über die Gewährleistung von Teilhabe und Mitwirkung an politischen Entscheidungen – essentiell ist, ländlich-periphere Räume zu stabilisieren und den Menschen den Glauben an eine gute Zukunft in ihrer Region zu erhalten oder wieder zu vermitteln. Die Einbindung lokaler Akteure und ihrer spezifischen Wissensbestände verbessert nicht nur die Qualität von Projekten und die Wahrscheinlichkeit ihrer erfolgreichen Umsetzung, sondern steigert auch die Selbstwirksamkeitserfahrung und Zufriedenheit der Menschen sowie ihr lokales und regionales Zugehörigkeitsgefühl. 

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